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Wie Schüler/innen mit dem Krieg umgehen

Weingartenschule setzt Zeichen der Solidarität - Hilfe geben, Ängste nehmen

50 Hände fliegen in die Höhe. Sie gehören den Schülerinnen und Schülern der Klasse G5c und ihrer Klassenlehrerin Heike Zweschper. Mit Zeige- und Mittelfinger bilden sie das Peace-Zeichen. Ein V als Symbol des Friedens. Den wünschen sich die Kinder aus der Weingartenschule von ganzem Herzen. Frieden für die Welt, Solidarität mit der Ukraine. Sie sind bereit zu helfen, etwas mit ihren Mitteln zu tun. Ihre Lehrerin zeigt sich von ihrem Engagement begeistert: „Unglaublich, wie die Kinder von sich aus auf mich zukamen und ein Bündel von Ideen präsentierten.“ Unter der Überschrift: “Was können wir tun?“, trugen sie ihre Vorschläge und Ideen zusammen. Von einer Riesenflagge der Ukraine platziert am Schuleingang mit der Aufschrift „Solidarität mit der Ukraine“, über das Aufsteigenlassen von gelben und blauen Luftballons, bis hin zu Spendenaktionen und einem Sponsorenlauf für die Ukrainer war alles drin.

Große Betroffenheit

Die 11jährige Schülerin Maida hat in der Ukraine eine Freundin, die Hals über Kopf flüchten und alles stehen und liegen lassen musste: „Sie ist so froh, überhaupt noch am Leben zu sein“, berichtet Maida erschüttert. Allen Schülern war klar, dass Zeichen gegen den Krieg gesetzt werden müssen. Viele kennen jemanden aus der Ukraine, haben Freunde und Bekannte dort. Manche der Kinder sind familiär betroffen, wie zum Beispiel Fünftklässler Paul, ebenfalls 11 Jahre alt. Er hat einen Uropa in der Ukraine, mit dem er am Telefon über den Krieg redet. „Es ist alles so grausam“, zitiert er seinen Verwandten. Die Schweigeminute am Mittwoch um 11 Uhr hat allen in der Schule noch einmal ins Bewusstsein gerufen, dass etwas nicht mehr Vorstellbares passiert war: Krieg, und zwar mitten in Europa. Das stille Gedenken war von Hessens Kultusminister Alexander Lorz angeregt worden.

Ängste aufgreifen

In zahlreichen Städten nahmen bereits tausende Menschen an Friedens-Demonstrationen teil, um Solidarität mit der Ukraine sowie allen Opfern des Krieges zu zeigen. „Als Ausdruck unserer Anteilnahme und unseres Mitgefühls mit dem ukrainischen Volk und allen, die unter dem Krieg zu leiden haben, rufe ich die Schulen in Hessen für Mittwoch, 11 Uhr, zur Teilnahme an einer Schweigeminute auf und ermutige die Schulgemeinden zu einem gemeinsamen Bekenntnis für Frieden und Freiheit. Unsere Schulen sind Orte der Toleranz und Weltoffenheit“, so Lorz in seinem Appell.

Die Schulleiterin vor einem Plakat.
Die Schulleiterin vor einem Plakat, das Schüler/innen gestaltet haben.

Die Schulleiterin der Weingartenschule, Elke Wetterau-Bein, reagierte auf den Krieg bestürzt und betroffen. In ihrem Brief an die Schulgemeinde schreibt sie über weitreichende Folgen für Schülerschaft und Kollegium zugleich. „Wir werden gefordert sein, unseren Schülerinnen und Schülern Orientierung und Sicherheit zu geben. Wir müssen ihre Sorgen und Ängste ernstnehmen und im Unterricht und als Schulgemeinde sensibel mit dem Thema umgehen. Wir sollten aber auch aktiv werden und zeigen, auf welche Weise wir die ukrainischen Menschen unterstützen können. Wir wollen als Gegenbild der gegenwärtigen Situation in Osteuropa zeigen, dass die Weingartenschule einen wertschätzenden Umgang miteinander pflegt, insbesondere mit Blick auf unsere Schülerinnen und Schüler mit ukrainischen und russischen Wurzeln.“

Die 16jährige Evelina ist eine davon. Sie ist russischer Abstammung und hat das Fach Politik und Wirtschaft kurz PoWi, bei Oberstudienrat Alexander Heyd. Dort wird das Thema Ukrainekrieg in nächster Zeit ausgiebig behandelt werden. Evelina hat ganz klare Ansichten und findet deutliche Worte zu Putin: „Mich hat der Krieg nicht überrascht“, zieht sie für sich Bilanz „Es gab genug deutliche Anspielungen, dass Putin Grausamkeiten wahr macht.“ Der Krieg sei letztlich die „Weiterführung seiner bisherigen Schandtaten“, und meint damit die Annexion der Krim. Von der Ermordung von russischen Regimegegnern auf offener Straße ganz zu schweigen. Ihrem Mitschüler Filip waren die Bewegründe hingegen nicht so klar, er wüsste gerne mehr über das „Warum“. Er hat auch eine klare Meinung zu der Schweigeminute und fand „einfach innehalten zu wenig“. Seiner Meinung nach hätte jeder noch einen Euro spenden sollen, „dann wäre schon was konkret zusammengekommen“, lautet sein Ansatz. Klar wird in den Gesprächen: Die meisten Kinder und Jugendlichen wollen etwas tun. Aktiv gegen diese „Ohnmacht und Hilflosigkeit“, wie die 14jährige Stella aus der G9a es nennt, angehen.

Gegen die Ohnmacht

„Viele Kinder machen sich Gedanken und sind sehr beunruhigt“, fasst Studienrat Marco Silvestri die Stimmung in seiner Klasse zusammen. In der G9a wurde der Wunsch nach einem Selbstverteidigungs- und einem Erste-Hilfe-Kurs formuliert. Die Schüler wollen sich von dem Gefühl der Unsicherheit befreien, so der Pädagoge. Dahinter stecke der Wunsch, etwas tun zu wollen, sich selbst zu spüren. Eine Gefahrenprävention gäbe den Jugendlichen ein besseres Gefühl angesichts der Bedrohungslage. „Es ist vielleicht irrational“, schätzt Silvestri dieses Bedürfnis ein, „aber es hilft den Jugendlichen, die grausamen Bilder in den Medien besser zu verarbeiten.“

Zu verarbeiten gibt es eine Menge, meint auch die WGS-Elternbeiratsvorsitzende Melanie Hirt. Alle Eltern schauten wahrscheinlich mit großer Besorgnis auf den Krieg gegen die Ukraine, sagt sie. Als Erwachsene könnten und müssten sie damit irgendwie umgehen. Die sowieso schon von der Corona-Zeit gebeutelten Kinder würden nun zusätzlich noch mit einem komplett neuen Thema - dem Krieg – konfrontiert. Das sei schwer, konstatiert Hirt. Natürlich sei das bei den meisten Familien ein Thema. Doch wie dieses Thema den Kindern vermitteln? Es käme auf das Alter an, gibt sie ihre Erfahrung weiter. Kleinere Kinder werden, so gut es geht, rausgehalten. Bei den größeren, die durch Schule oder soziale Medien viel mehr mitbekommen, wird darüber gesprochen und versucht, Ängste zu nehmen. Es sei wichtig, dass die Kinder informiert sind, und trotzdem versuchten die meisten Familien, den Kindern ihr doch eigentlich "sorgenfreies" Leben nicht zu nehmen. Da aber natürlich auch gerade die größeren Jugendlichen den Ernst der Lage begreifen, haben viele Familien schon Geld gespendet oder Pakete gepackt.

Laut Hessens Kultusminister Alexander Lorz sollen Schulen in Hessen wegen des Ukraine-Krieges psychologische Unterstützung bekommen. Eltern und weitere Angehörige, aber eben auch Lehrkräfte in den Schulen seien deshalb gefordert, den Schülerinnen und Schülern die notwendige Stabilität zu geben und ein solch emotionales Thema aufzugreifen. „Unsere Lehrerinnen und Lehrer können die Kinder und Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit den aktuellen Ereignissen sensibel begleiten, Gespräche anbieten und die Thematik auch auf Grundlage der Lehrpläne im Unterricht behandeln“, ist Lorz sicher.

Zuhören und verstehen

In der WGS sind Arbeitsblätter für den pädagogischen Umgang mit dem Ukraine- Krieg zusammengestellt worden. Vor allem in den Fächern Deutsch, Geschichte und Powi wird im Augenblick über den Krieg, seine Ursachen und Auswirkungen geredet und diskutiert.

Direktorin Wetterau-Bein hat volles Vertrauen in ihre Kolleginnen und Kollegen. Gerade die Klassenlehrer könnten sich am besten in ihre Klasse einfühlen und sensibel mit dem Thema umgehen. Die angesprochenen Schülerinnen und Schüler bestätigen diese Einschätzung. Die 16jährige Neli aus der G10b möchte über das Thema in Deutsch und Geschichte sprechen. Das helfe, die Hintergründe zu verstehen. In dieser besonderen Zeit würden oft in den letzten 10 bis 15 Minuten einer Unterrichtsstunde die Gedanken und Gefühle der Jugendlichen angehört. Das findet Neli richtig: „So können wir uns die Ängste buchstäblich von der Seele reden.“ Schulseelsorgerin Julia Diegisser und Sozialarbeiterin Viola Schade sind immer gesprächsbereit. „Wer mit uns reden will, ist immer willkommen“, fasst Diegisser ihr Hilfsangebot zusammen. Sie hat bereits ein Fragen und Antwortprojekt mit ihrer H7a erarbeitet. Da wird es unter anderem um die elementaren Fragen gehen: „Wie kam Putin zu dem Krieg?“ „Was bedeutet Solidarität?“ „Welche Werte müssen wir verteidigen?“ 

Genau das ist auch die Frage in der fünften Stunde in der 10. Gymnasialklasse in Powi. Geht es in der Ukraine auch um unsere Freiheit? Verteidigen sie dort stellvertretend unsere Werte? Es wird abgestimmt. Nur die Hälfte etwa ist in dieser Klasse dieser Meinung. Viele sind noch unentschlossen. Haben Fragen. Das zeigt aber auch, wie kalt dieser Krieg mitten in Europa die Menschen erwischt hat. Der Diskussions- und Gesprächsbedarf wird weiter steigen.

„Wir alle sind vielfältig davon betroffen, sei es wegen der Flüchtlingswelle, der steigenden Preise, der Inflation und durch das radikale Umdenken in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik“, betont der Pädagogische Leiter Alexander Heyd, der selbst Powi und Englisch unterrichtet. Für das letztere findet die 11jährige Annika lobende Worte: „Ich finde Waffenlieferungen an die Ukraine wichtig. Da können die sich wenigstens verteidigen.“ Der fünf Jahre ältere Schüler Cedric beurteilt den Krieg fast philosophisch: “Die Russen mögen die Schlacht gewinnen, aber sie verlieren den Krieg.“ Denn was sei ein Sieg wert, in dem das eigene Volk blute? Das fragt sich in diesen Zeiten vermutlich nicht nur er. Alexander van de Loo