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Staatsexamen ohne Schüler

Ungewohnte Prüfung zum Staatsexamen: "Meine vertraute Klasse habe ich vermisst“

„Am Schlimmsten war die Ungewissheit, ob es überhaupt stattfinden kann“, erinnert sich Aylin Akyüz. „Das hat mich sehr unter Stress gesetzt.“ Sie war eine der zwei Lehramtskandidaten, die während der Corona-Krise das zweite Staatsexamen an der Weingartenschule ablegen mussten.

Biologie und Deutsch sind ihre Fächer auf dem Realschulzweig der Weingartenschule.16 Unterrichtsstunden mit ihren Ausbildern als Publikum hatte sie bereits als Prüfungsvorbereitung in den vergangenen 21 Monaten hinter sich gebracht. Mit Corona kam die neue Situation. Die sympathische 26-Jährige weiß noch genau um ihre psychische Verfassung: Verwirrung, Ängste, Spekulationen - ein wahres Wechselbad der Gefühle ging in der jungen Frau vor sich.

Am 20. April erhielt sie dann die erlösende Einladung zum zweiten Staatsexamen vom Hessischen Studienseminar aus Rüsselheim. Da war endlich klar, dass sie ihre zweite Staatsprüfung antreten darf – wenn auch unter völlig neuen Bedingungen. „Mir fiel ein Stein vom Herzen“, bemerkt Akyüz. Schließlich sei die Prüfung nach der fast zwei Jahre dauernden Referendarausbildung so etwas wie die Krönung ihres Studiums.

Alle waren gekommen an jenem Mittwoch im Mai 2020: Die Prüfungskommission, die Schulleiterin Elke Wetterau-Bein und die Mentoren der Examenskandidatin. Nur ein nicht unwesentliches Element fehlte Corona bedingt: die Schülerinnen und Schüler. „Dass meine vertraute R7B nicht da sein durfte, habe ich schmerzlich vermisst“, resümiert Akyüz im Rückblick.

Lüften, Desinfektion, Abstand

Besonders wirklichkeitsnah war das Prozedere nicht, erinnert sich auch Schulleiterin Elke Wetterau-Bein: “Es fehlte in der Tat das Herzstück einer gelungenen Unterrichtsstunde, nämlich die Kinder und die Möglichkeit, mit ihnen zu interagieren.“ Aber was sei schon in diesen Zeiten so, wie man es von Vor-Corona-Zeiten kenne, fragt sie rhetorisch.

Die Bundesliga ohne Zuschauer, das „Germanys next Topmodel“-Finale ohne kreischende Fans, Talkshows ohne Gäste. Daneben nimmt sich eine zweite Staatsprüfung zur Lehrerin ohne Schülerinnen und Schüler in der Größenordnung schon fast bescheiden aus. Denn fast alles im sozialen Miteinander folgt in diesen pandemischen Zeiten neuen Regeln. Und auch im Fall des zweiten Staatsexamens hatte das Kultusministerium einiges verändert.

So musste ein Prüfungsraum mit einer Größe von circa 30 Quadratmetern bereitgestellt werden, der gut zu lüften war. Die Prüfer saßen an sechs desinfizierten Tischen mit Stühlen in ausreichendem Abstand und Aylin Akyüz musste sich in einem separaten Raum vorbereiten. Für Seife und Desinfektionsmittel war ebenfalls gesorgt. Und natürlich musste der als „Nervennahrung“ übliche kleine Snack samt Getränkeangebot aus Hygienegründen unterbleiben. Das schmeckte nicht jedem.

„Alles kein Problem“, so Schulleiterin Elke Wetterau-Bein. Schwieriger war die Vorstellung des Stundenthemas ohne die nicht erlaubten Tierpräparate im Fach Biologie, wie Maulwurf und Maulwurfsgrille, das Herumreichen, Auslegen oder Aufhängen von Material oder die lebhafte Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern im Fach Deutsch.

Praktische Vernunft

Allen Beteiligten im Prüfungsausschuss war bewusst, dass es sich um ein außergewöhnliches Format der Staatsprüfung unter Corona-Bedingungen handelt. „Wir haben diese besondere Prüfung mit dem gebotenen Augenmaß bewertet“, erklärt Wetterau-Bein. Der Prüfungsausschuss solle „im Geist der gebotenen Vernunft“ arbeiten, hatte der hessische Ministerpräsident betont. Den Betroffenen solle kein Nachteil entstehen.

„Unsere Referendarin kann ja nichts für diese Notsituation“, führt Wetterau-Bein aus. „Ich habe sie vor Corona in Prüfungssituationen mit Kindern erlebt.“ Das habe ein klares Bild von der Lehrerpersönlichkeit ergeben, die vor der Klasse stehe. Wer als Lehrerpersönlichkeit mit Herzblut dabei sei und Inhalte klar und anschaulich vermitteln könne, merke man recht schnell, so die erfahrene Schulleiterin. „Ein bisschen wie beim Dating, da sind auch die ersten Eindrücke entscheidend“, ergänzt sie schmunzelnd.

Alles gut!

Trotz aller widrigen Umstände verliefen die Prüfungsstunden in Deutsch und Biologie für die Realschule wie geplant. Anhand der schriftlich ausgearbeiteten und viele Seiten umfassenden Unterrichtsentwürfe, anhand kritischer Rückfragen, abschließender gemeinsamer Erörterung der Prüfungskommission und nach bestandener mündlicher Prüfung stand dann auch die Note fest.

Die Erleichterung bei Kandidatin Akyüz war groß, als alles vorbei war. Um 12 Uhr mittags war die Prüfung geschafft und alles gelaufen. „Ich bin sehr froh“, freute sich Aylin Akyüz, die gerne als Kollegin an der Weingartenschule bleiben darf. „Lehrerin zu werden, war seit der 12. Klasse mein größter Wunsch.“ Sie freut sich nun darauf, in Zukunft ihre Schülerinnen und Schüler in ihren Fähigkeiten fördern. Bei ihr stimmte trotz Corona das Fachliche und das Zwischenmenschliche. Die Note übrigens auch: 1,8. Beste Voraussetzungen für die Zeit nach den Sommerferien.

Alexander van de Loo